Der Jahreswechsel fällt in diesem Jahr zusammen mit der vierten Welle der Coronapandemie sowie der neu aufgetretenen Omikronvariante. Notwendige, pandemiebedingte Einschränkungen dauern fort. Darüber, was dies für unsere Psyche bedeutet, was wir selbst tun können, um mit Belastungen umzugehen, und wann wir uns Hilfe suchen sollten, sprechen wir mit Dr. Johannes Krautheim, Oberarzt an der Vitos Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Gießen und Vorsitzender des Bündnisses gegen Depression Gießen e.V.
Herr Dr. Krautheim, was bedeutet das Fortdauern der pandemiebedingten Einschränkungen für die menschliche Psyche?
Dr. Krautheim: Die Belastungen sind vielfältig: Ob finanzielle Sorgen, reduzierte persönliche Kontakte, Schwierigkeiten, eine Kinderbetreuung zu finden, oder eine verschobene Operation – die gegenwärtigen Einschränkungen umfassen viele Lebensbereiche. Gleichzeitig sind die Hürden, das eigene Leben in wichtigen Bereichen angenehm und positiv zu gestalten, weiterhin erhöht. Das schlägt sich auch in der psychischen Belastung vieler Menschen nieder.
Inwiefern genau?
Dr. Krautheim: Unsere Lage hat sich verändert. Während unsere Situation vor einem Jahr noch schicksalhaft war und wir mit der Impfung ein Licht am Ende des Tunnels vermuteten, bleibt es gegenwärtig noch unklar, wann wir es schaffen, mit einer ausreichenden Impfquote die Situation zu verändern. Das befördert Gefühle von Überforderung, Erschöpfung und Hilflosigkeit. Das Gefühl, einer schwierigen Lebenssituation hilflos ausgeliefert zu sein, kann der Entwicklung einer Depression Vorschub leisten.
Was kann man gegen das Gefühl der Hilflosigkeit tun?
Dr. Krautheim: In objektiv schwierigen Lebenssituationen hilft kein Schönreden, aber von den antiken Griechen über den Buddhismus bis in die moderne Verhaltenstherapie gibt es hier immer wieder eine zentrale Strategie: Genau zu unterscheiden, welche Elemente ich in meiner Situation beeinflussen kann und welche nicht – um mich dann auf die Dinge zu fokussieren, die ich beeinflussen kann.
Wie kann jeder Einzelne einer Depression vorbeugen?
Dr. Krautheim: Die Möglichkeiten sind vielfältig und erstrecken sich beispielsweise von einer Tageslichtlampe am Morgen, sportlichen Aktivitäten über dem Durchführen von Achtsamkeitsübungen bis hin zum bewussten Aufsuchen von Menschen, die mir wichtig sind. Mit einem ganzheitlichen medizinischen Blick betrachten wir den Menschen auf drei Ebenen: als körperliches, als fühlendes und denkendes sowie als soziales Wesen. Grundsätzlich sollten wir darauf achten, dass wir keine dieser drei Ebenen gänzlich aus dem Blick verlieren.
„Mit einem ganzheitlichen medizinischen Blick betrachten wir den Menschen auf drei Ebenen: als körperliches, als fühlendes und denkendes sowie als soziales Wesen. Grundsätzlich sollten wir darauf achten, dass wir keine dieser drei Ebenen gänzlich aus dem Blick verlieren.“
Woran erkennt man eine Depression?
Dr. Krautheim: Oft ist im Rahmen einer depressiven Episode die Fähigkeit herabgesetzt, Freude zu empfinden, Energie und Schwung für den Alltag zu generieren, sich zu konzentrieren oder nachts Ruhe und Schlaf zu finden. Viele klagen über Appetitverlust, über ein Schweregefühl in der Brust und leiden unter Perspektivlosigkeit. Das Bild des Dementors aus J.K. Rowlings Harry Potter Romanen, der dem Betroffenen alle positive Energie entzieht, beschreibt diesen Zustand symbolisch sehr passend.
Wann sollte man sich Hilfe suchen?
Dr. Krautheim: Wenn man die eben beschriebenen Symptome bei sich feststellt, sie nicht von kurzer Dauer sind oder stärker werden, sollte man Hilfe aufsuchen. Ein Großteil der relevanten Angebote kooperiert im Bündnis gegen Depression Gießen e.V., mit dem Ziel Menschen in dieser Situation niedrigschwelliger zu erreichen.
Wann sollte ich notfallmäßig Hilfe suchen?
Dr. Krautheim: Wenn die depressive Symptomatik stärker wird, gesellen sich mit der Perspektivlosigkeit oft lebensmüde Gedanken hinzu. Dies kann unbehandelt gefährlich werden und ist tragisch, denn Depressionen sind behandelbar! Daher vermitteln wir Betroffenen immer wieder die Botschaft: Wenn Sie Hilfe benötigen, sind wir gerne für Sie da. Zögern Sie nicht, uns aufzusuchen!
Kontakt zu Beratungsstellen
Sie suchen Hilfe oder sind im Zweifel, ob Sie an einer Depression leiden? Auf unserer Webseite finden Sie Adressen von Beratungsstellen und Institutionen, an die Sie sich wenden können.